People Are People
Oder von Schönheit und Rätselhaftigkeit der menschlichen Interaktion in den künstlerischen Arbeiten von Jana Schulz

von Christine Nippe

Ein azurblaues Licht wird von pinkfarbenen Scheinwerferkegeln durchbrochen. Der Raum taucht in eine verschwommene Atmosphäre. Es bewegen sich tanzende Körper vor der Kamera. Dazu erklingt elektronische Musik, die das Klingeln und Rasseln von Spielautomaten einwebt. Zigarettenrauch umhüllt eine Frau. Ein junger Typ steuert wiegend auf sie zu, er umtanzt den weiblichen Schatten, der Rhythmus beschleunigt sich, Blicke werden ausgetauscht.

Jana Schulz’ Video Blaue Perle (2013–2014) versetzt uns in eine nächtliche Szenerie der Sehnsucht mitten in eine Leipziger Bar. Die Kamera zoomt auf das spielerische sich Annähern und wieder Entfernen der Nachtschwärmer, das gegenseitige Beobachten, Flirten und Tanzen. Mitten im Film bleibt ein junger Mann plötzlich stehen, um eine Minute still in die Kamera zu schauen. Es scheint, als ob er den Betrachter genau ansieht. Wie beim Durchbrechen der „vierten Wand“1 blickt er raus aus dem Bild- und rein in den Betrachterraum. Jana Schulz schafft mit Blaue Perle eine filmische Komposition menschlicher Interaktion, die sich auch in jedem anderen Club abspielen könnte. Indem sie in ihrem Video präzise Licht, Schnitt und Sound aufeinander abstimmt, entsteht ein von der Realität entrückter Ort. Der Klang von Spielautomatengeräuschen verspricht den großen Gewinn und wird mit exakt komponierten elektronischen Klängen gemischt. Schulz hat für den Ton mit dem Komponisten Fabian Saul zusammengearbeitet: Ein regelmäßiges Schlagen auf die Tasten von Spielautomaten gibt den Takt vor, eingewebt in die rhythmische Richtschnur von People Are People von Depeche Mode. Es entsteht eine mäandernde Soundlandschaft, die auf Schlüsselszenen abgestimmt ist. Die Szenen entspannen sich ähnlich einem elektronischen, sich monoton ins Endlose ausdehnenden Klangteppich ohne Höhepunkt dahin. Blaue Perle ist als Endlosschleife konzipiert, ohne Vor- und Nachspann: „Das Video thematisiert eine Realitätsflucht, die Idee einer nie endenden Nacht“, sagt Jana Schulz im Gespräch. Und so gelingt es ihr, dass eine entgrenzte Nacht der Sehnsucht am Betrachter vorbeizieht. Das Augenmerk auf die menschliche Interaktion steht im Mittelpunkt auch weiterer künstlerischer Arbeiten von Jana Schulz. So auch in der Videoarbeit Türkisch Leder (2013), in der die Künstlerin Jugendliche bei ihrem brutalen Spiel mit einer Münze auf einer Beton-Tischtennisplatte – bis die Handknöchel bluten – beobachtet: Der Film beginnt mit einer Nahaufnahme auf verwundete Handrücken. Es folgen vier mit Narben übersäte, geballte Fäuste, das Schnipsen eines Geldstücks auf einer mit Graffiti besprühten Betonoberfläche und schließlich das Hochzoomen der Kamera auf die Teenager. Durch Zufall beobachtete Jana Schulz die Jugendlichen bei ihrem Spiel und ließ es für die Kamera erneut aufführen. Auch der kanadisch-amerikanische Soziologe Erving Goffman interessierte sich für die Interaktion zwischen Menschen und definierte sie als eine „wechselseitige Handlungsbeeinflussung, die Individuen aufeinander ausüben, wenn sie füreinander anwesend sind.“2 In Schulz’ Videos scheinen sich die Protagonisten in eine Art spielerische Trance hochzuschaukeln.

Die Künstlerin besitzt ein „decerning eye“3, ein verstehendes Auge, wenn sie die Rituale der jungen Erwachsenen als Stoff für ihre Kunst entdeckt. Ihre feine Beobachtungsgabe sagt ihr, dass es sich hier um etwas Außergewöhnliches im Alltag handelt: Das Spiel hat ein Gewaltpotenzial und gleichzeitig eine Poesie. Letztlich schwingt auch hier wie bei der Blauen Perle eine Idee von Abgrund mit, beide menschlichen Interaktionssituationen können kippen.

In einer mehrteiligen Arbeit über die Kunstfigur Andy Alanis spielt Jana Schulz anhand eines Posters, einer Kassetten- und einer Tonbandaufnahme sowie einer Musik-Edition mit der Konstruktion eines rätselhaften Anderen. Wir erhalten nur spärliche Informationen über die Herkunft des Protagonisten: Andy Alanis wurde als Andreas Michael Etzold geboren, lebte von 1957 bis 2001 und gab sich in Anlehnung an Alanis Morissette seinen Künstlernamen. Von ihm erhielt Schulz zwei Jahre lang fast täglich Briefe, Gedichte, Notizen, Zeichnungen, Collagen sowie zwei selbstbespielte Audiokassetten, doch es handelte sich um eine einseitige Kommunikation: Sie antwortete ihm nicht.

Die Künstlerin spürt in ihrer Arbeit dem Begehren nach, wenn sie sagt: „Wir haben uns nie persönlich kennengelernt und auf diesem Nichtkennen fußt die gegenseitige Projektion. Ich kehre nun diese Rolle um, benutze ihn als Projektionsfläche, veröffentliche Teile seines Materials und füge Neues hinzu. Diese Relation hat Ähnlichkeiten mit virtuellen Beziehungen im Internet.“ Scheinbar konnte Alanis seinen Aufenthaltsort aus unbekannten Gründen nicht verlassen. Seine Korrespondenz steht für die Isolation und den Versuch, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Ein Kommunikationsversuch, der erst posthum erwidert werden sollte. So erklingen auf der Kassette A = Aufnahme für Jana / Andy Alanis (2014) die Gitarrenstücke, die der Unbekannte für die Künstlerin komponierte. Die Musik wird zum Mittel der Sehnsucht. „Er stellte Fragen an meine Jugend, an die damalige Zeit: ‚Was ist eigentlich Hip Hop? Schreibe mir das mal’“, berichtet die Künstlerin im Gespräch. Dazu entwickelte Schulz ein Poster von Andy Alanis. Sie inszeniert ein gefundenes Foto von ihm als Popmusiker. Das Gegenlicht in seinem Haar hat sie als mögliches Bühnenscheinwerferlicht nachträglich in die Fotografie hineinretuschiert. Auch die Kassetten-Edition in einer weißen Schachtel trägt ein Bild von ihm. In Anlehnung an das White Album von den Beatles hat sich die Künstlerin mit ihrer Ästhetik aus der Popkultur bedient. Die Tonbandaufnahme trägt den Titel Wer macht im Krieg die Musik? Ihr meint wohl die Kanon’? Doch pro Kanon’ ein Ton, das würd’ sich nicht lohn’. In dieser Arbeit hat Schulz zusammen mit dem Musiker Stefan Schöneich ein Stück komponiert, das sich auf die siebziger Jahre bezieht; Krautrock und den Beginn elektronischer Musik. „Wir sind dabei der Frage nachgegangen, wie Alanis’ Sound hätte klingen können, wäre er damals Musiker gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hat er noch nicht isoliert gelebt.“ Mit diesem Satz verrät die Künstlerin, dass sie mehr über diesen Unbekannten weiß. Warum lebte er vereinzelt? Welche Gründe bewogen ihn, einen zweijährigen, unerwiderten Briefwechsel mit einer jungen Frau zu führen?

Sowohl die inneren Bilder, die in den Arbeiten zu Andy Alanis entstehen, als auch die meditativ-beobachtenden filmischen Sequenzen aus der Blauen Perle spüren leise Fragen nach Identitätskonstruktion und Fiktion nach. Was ist Realität, künstlerischer Eingriff oder Fiktion? Schulz’ Arbeiten beschreiben genau dieses „Dazwischen“. Bei Andy Alanis, indem sie seinen Charakter durch Auslassung, Bearbeitung seines Materials und dem Hinzufügen von Neuem erschafft. Bei der Blauen Perle durch das Aufzeigen der Authentizität der Interaktion, die jedoch gleichzeitig potenziell durch unsichtbare Handlungsanweisungen – also den künstlerischen Eingriff von Schulz – gelenkt wird. Die Szenerie der Leipziger Clubgänger wird durch Dramaturgie, Licht-, Schnitt- und Soundkomposition in einen eigenen Raum zwischen Realität und Fiktion, zwischen Identität, Performanz und Rollenspiel verortet. Und schließlich erinnern wir uns an den sehnsuchtsvollen Blick Andy Alanis’, des mysteriösen Mannes mit dem halblangen Haar, und uns wird bewusst: Die menschliche Kommunikation kann ganz schön ästhetisch und rätselhaft zugleich sein! Und wir fragen uns mit Depeche Mode:

People are people, so why should it be
You and I should get along so awfully?

 

1 Die vierte Wand wird in der Theorie des naturalistischen Theaters Ende des 19. Jahrhunderts als die zum Publikum hin offene Seite einer Bühnensituation bezeichnet, die von den Darstellern nicht durchschritten wird. Ein Schauspieler kann jedoch aus der Rolle fallen und in dieser Weise die vierte Wand durchbrechen, um eine Kommunikation mit dem Publikum aufzunehmen.

2 Eving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969, S. 18

3 Der chinesische Anthropologe Yi Fu-Tuan entwickelte den Begriff des „discerning eye“, des verstehenden Auges. Er betont, dass erst [...] das Eingebundensein in soziale Bezüge und Wertesysteme dieses Wissen forme. Siehe auch: Christine Nippe, “Street Dreams are made of this. Imaginationen eines Stadtraums”, S. 187f., in: Beate Binder (Hg.), Nahwelten. Zur Produktion von Lokalität in einer spätmodernen Stadt, Reihe Berliner Blätter 28, Münster 2002 und Yi Fu-Tuan, Space and Place: The Perspective of Experience, Minneapolis 2001